100 JAHRE TÜRKISCHES KINO!

Winterschlaf

Wie alt das türkische Kino wirklich ist, darüber scheiden sich die Geister. Doch während die Filmhistoriker sich darüber streiten, hat die Türkei in allen Institutionen gemeinsam mit den Cineasten der Türkei den 100. Geburtstag des türkischen Kinos das ganze Jahr über gefeiert. Es wurden Bücher geschrieben, Feste gefeiert und namhafte Festivals der Türkei wie Antalya und Adana hatten diesen runden Geburtstag im Fokus.
Anstoß für den Diskurs über das Alter des türkischen Kinos geben zwei Filme: Der 150 Meter lange, im Jahr 1914 gedrehte Film Ayastefenos Abidesinin Hadmi (Die Zerstörung des russischen Denkmals in San Stefanos) von Fuat Uzunkınay, dessen Kopie als verschollen gilt und der viele Jahre vorher gedrehte Film Büyükanne Despina (Großmutter Despina) der Manaki Brüder. Die Manaki Brüder, deren Filme von der Mimar Sinan Universität restauriert und zum 100-jährigen Jubiläum aufgeführt wurden, sind Walachen vom Balkan und werden somit von einigen Filmhistorikern nicht als Begründer des türkischen Kinos angesehen, auch wenn sie bis 1912 Bürger des Osmanischen Reiches waren.

Eine andere Diskussion, die zum Jubiläum entfachte, galt der Begrifflichkeit. Ist es nun das Türkische Kino oder das Kino der Türkei? Diese Diskussion wurde vor allem auch auf dem 51. Filmfestival in Antalya geführt, das nicht nur türkische, sondern auch kurdische Filme prämierte. So beharren die traditionsbewussten Meister weiterhin auf der Bezeichnung „Türkisches Kino“, während die jüngere Generation der Filmemacher sich der vielen Ethnien in der Türkei bewusst ist und ausdrücklich den Begriff „Kino der Türkei“ bevorzugt.

Das Filmfestival in Antalya hat auch ein weiteres “altes” Problem des Filmes in der Türkei zutage gebracht: Die Zensur. Der Dokumentarfilm Yeryüzü Aşkın Yüzü olana dek von Reyan Tuvi, der die Gezi Park Proteste behandelt, wurde von der Vorjury zum Wettbewerb ausgewählt, aber von der Festivalleitung nicht zum Wettbewerb zugelassen, da in einer Szene der damalige Premierminister Recep Tayyip Erdoğan von Protagonisten beleidigt würde. Diese Krise führte dazu, dass mehrere Filmemacher ihre Filme zurück zogen und Alin Taşçıyan, Mitglied der Festivalleitung und gleichzeitig Vorsitzende von FIPRESCI und SIYAD (Verband der Filmkritiker der Türkei) von ihrem SIYAD-Vorsitz zurücktrat. Es ist abzusehen, dass dieser Eklat auch 2015 noch ein Thema sein wird.

Offizielles Ziel im 100. Jahr war es, 100 Filme in der Türkei zu produzieren und in die Kinos zu bringen. Dieses Ziel wurde sogar überschritten. Nach Angaben des Türkischen Kulturministeriums hatten 2014 108 Filme Kinostart. Die Anzahl der Gesamterstaufführungen betrug 314. Im Jahr 2013 waren insgesamt 50,4 Millionen Zuschauer im Kino; im Jahr 2014 stieg die Zahl auf 50,8 Millionen. 58% der Kinobesucher, das sind  31 Millionen, entschieden sich dabei für einen in der Türkei produzierten Film.  

Das größte Geburtstagsgeschenk zum 100-jährigen war aber wohl Kış Uykusu (Winterschlaf) von Nuri Bilge Ceylan, der auf den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme gewürdigt wurde. Mit diesem Preis erhält der Film nach Metin Erksans Susuz Yaz (Trockener Sommer), Semih Kaplanoğlus Bal (Honig), die 1964 und 2010 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurden und Yol (Der Weg) von Yılmaz Güney, der ebenfalls die Goldene Palme erhielt (ex aequo mit Costa Gavras, 1982) einen besonderen Platz in der Filmgeschichte der Türkei. Die Goldene Palme war ein wichtiger Erfolgsfaktor für den Arthouse Film: 304.782 Zuschauer haben den Film gesehen und Nuri Bilge Ceylan zu einem Rekord in der Sparte Arthouse verholfen.

Wie in jedem Jahr haben die Zuschauer in der Türkei jedoch wieder den Mainstream und hier insbesondere die Komödien bevorzugt. Absoluter Kassenschlager war der bereits vierte Teil der Komödie Recep Ivedik (7.369.098). Gefolgt wurde er von einem anderen Sequel; der Komödie Eyyyvah Eyvah – 3 (3.414.212) und einer weiteren Komödie Düğün Dernek (2.889.011). Das meistgesehene Drama hingegen war Unutursam Fısılda (1.658.359) vom Erfolgsregisseur Çağan Irmak.

Im hundertsten Jahr gewannen auf den internationalen Filmfestivals in Istanbul, Ankara, Adana, Antalya und Malatya folgende Filme die Hauptpreise in der Kategorie „Bester Film“: Ben O Değilim (Regie: Tayfun Pirselimoğlu), Daire (Regie: Atıl İnanç), Toz Ruhu (Regie: Nesimi Yetik) und Kuzu (Regie: Kutluğ Ataman). Doch das Phänomen, dass auf Festivals prämierte Filme im Kino keine Publikumsmagneten sind, trat auch in diesem Jahr ein. So wurde der Kinostart des Filmes Kuzu, der seine Premiere auf der Berlinale feierte und den CICAE Preis (Verband der Filmkunsttheater) erhielt, vom 17. Dezember bis auf weiteres verschoben.

Die größten Unterstützer des türkischen Kinos in seinem hundertsten Jahr waren die Zuschauer an der Kasse. Der größte Förderer war dagegen das Türkische Kulturministerium. Laut der offiziellen Angaben wurden 54 Spielfilmprojekte mit ca. 8,5 Mio Euro, 212 Dokumentarfilme, Drehbuchentwicklungen und Erstlingsprojekte mit 1,6 Mio Euro gefördert.

Der mit großer Aufregung erwartete Film The Cut von Fatih Akin, der aufgrund der umstrittenen „Armenierfrage“, die der Film behandelt, schon im Vorfeld große Diskussionen entfachte, hatte seinen Kinostart am 5. Dezember 2014. Doch der von den Medien prophezeite große Protest durch türkische Nationalisten blieb aus und der Film erzielte nur eine Zuschauerzahl von 13.293.

Ein anderes großes Ereignis war zweifelsohne die Zusammenarbeit des Hollywood Stars Russel Crowe mit zwei Berühmtheiten aus der Türkei: Yilmaz Erdogan und Cem Yilmaz. The Water Deviner, bei dem Crowe auch die Regie führte, behandelt die Schlacht um Gallipoli, die die Australier während des Ersten Weltkriegs im Namen der Englischen Krone gegen das Osmanische Reich führten. Der Film startete in den letzten Tagen des Jubiläumsjahres und erreichte bereits in den ersten drei Wochen 1.120.673 Zuschauer.

Das vergangene Kinojahr hat gezeigt, dass in der Türkei Kino nicht mehr nur für den türkischen Markt gemacht wird, sondern mit neuen, erweiterten Visionen auch das Interesse internationaler Märkte weckte.

COŞKUN ÇOKYİĞİT
Journalist, Filmkritiker, İstanbul