DER DEUTSCHE FILM IM JAHRE 2014

300 Worte deutsch

Es war ein Jahr der Überraschungen. Die größte davon kam aus Frankreich: Als die Deutschen nach vielen Wochen WM-Fieber und Kinoabstinenz danach lechzten, endlich wieder ins Kino zu gehen, startete mitten im gefürchteten Sommermonat Juli MONSIEUR CLAUDE UND SEINE TÖCHTER durch wie eine Rakete, eroberte den ersten Platz und hielt ihn mit sensationellen 3,6 Millionen Zuschauern bis zum vorweihnachtlichen HOBBIT-Start – ein No-name-Produkt aus Frankreich, entdeckt von einem engagierten mittleren Verleih, der dem deutschen Förderfilm damit den Rücken kehrte und ein Exempel statuierte. Das Erfolgsgeheimnis? Eine freche Geschichte, die ins Schwarz trifft und die wechselseitigen Ressentiments einer multikulturellen Gesellschaft nicht mit Gutmenschentum bekämpft, sondern komödiantisch überspitzt in ein fröhliches Gemetzel jagt, das den Kinosaal vor Lachsalven erzittern ließ. Eine Komödie für alle, die auch über sich selbst lachen können - und das waren viele. Nahezu zeitgleich ging die zweite Überraschung ins Rennen: WIR SIND DIE NEUEN, eine generationenübergreifend angelegte Rentner-vs-Studenten-WG-Komödie, die mit sagenhaften 870.000 Zuschauern Rang 8 unter den Top Ten der deutschen Filme eroberte. Auf dem ersten Platz steht mangels Schweiger – der sollte erst zu Weihnachten starten – ein Schweighöfer, VATERFREUDEN (2,3 Mio Besucher), und auf dem zweiten Platz die dritte Überraschung: STROMBERG, der erste mit Crowdfunding finanzierte deutsche Film. Gegen alle Unkenrufe brachten 3.000 Kleininvestoren in kürzester Zeit 1 Million Euro auf – und mit über 1,3 Mio Zuschauern flossen schon bei der ersten Abrechnung 1,169 € zurück, eine stattliche Rendite von 17%; das hätten die Aktionäre einer von Insolvenz zu Restrukturierung und Merger sich hangelnden filmproduzierenden AG pompösen Namens sicher auch gern mal erlebt.

Nicht überraschend ist, dass der voraussichtliche Marktanteil deutscher Filme von rund 25 Prozent von den zuständigen Filmförderern als uneingeschränkter Erfolg gewertet wird. Unerwähnt bleibt dabei wie jedes Jahr, welchen der geförderten Filme dieser erfreuliche Anteil hauptsächlich zu verdanken ist – und welchen nicht. Die Kinobetreiber, die all die kinountauglichen Kleinstfilme und selbst evident Missratenes aufgrund unsinniger Förderregularien zeigen sollen, wissen ein Lied davon zu singen; erst recht die Verleiher, deren Zuschauerzahlen pro Startkopie und Film sich seit der massiven Förderausweitung nach Gründung des DFFF im Jahr 2007 nahezu halbiert haben: Die Schnittchen sind durch die am Markt vorbeiproduzierte Filmflut einfach kleiner geworden, mit schlimmen Folgen für die Rentabilität des Verleihgeschäfts. Dennoch ist es der Produzentenlobby gelungen, die erforderliche und im Sommer endlich verwirklichte moderate Fördermengenbegrenzung nahezu unwider-sprochen als Untergang der deutschen Filmwirtschaft zu denunzieren. Die Gelegenheit, einmal ehrlich zu diskutieren, wer hier auf wessen Kosten gefördert wird, wurde verpasst.

Zu den Überraschungen zählt auch, wie jedes Jahr, welche Filme dank Koproduktion als zumindest teildeutsche gelten müssen. An erster Stelle natürlich der Eröffnungsfilm der Berlinale, Wes Andersons GRAND BUDAPEST HOTEL, dessen Siegeszug im Kino – knapp 1 Mio Zuschauer! - alle Erwartungen übertraf. Zwei weitere Titel seien hervorgehoben, beide hatten ihre Premiere im Wettbewerb von Cannes: DIE WOLKEN VON SILS MARIA, ein abgründig intelligentes Arthouse-Drama von Olivier Assayas mit Juliette Binoche, Kristen Stewart und Lars Eidinger steht inzwischen bei höchst respektablen 80.000 Zuschauern. Der Film ist das Vermächtnis eines großen deutschen Verleihers und (Ko-)Produzenten, der die Premiere nicht mehr erleben durfte: Am 23. März starb im Alter von 65 Jahren Karl „Baumi“ Baumgartner, der mit seiner Pandora die Meister des europäischen Arthouse von Jarmusch und Kaurismäki bis Güney und Tarkowsky in die deutschen Kinos brachte. Der zweite Titel ist der Gewinner der Goldenen Palme: WINTERSCHLAF von Nuri Bilge Ceylan. Hand auf Herz – wer hätte gedacht, dass auch dieses Meisterwerk, das trotz enormer Überlänge fast 20.000 Zuschauer erreichte, mit deutschem Geld koproduziert wurde? Der Berliner Bredok Film Production von Mustafa Dok und Chris Breuer sei Dank!

Eine Überraschung der besonderen Art war, dass der von Kritikern mit höchster Spannung erwartete teuerste majoritär-deutsche Film des Jahres, Fatih Aktins THE CUT (15 Mio € - zum Vergleich: VATERFREUDEN war für ein Drittel zu haben), nicht in Cannes, sondern in Venedig seine Premiere feierte – um daselbst von der fassungslosen Kritik fast einhellig für gescheitert erklärt zu werden. Nur 88.000 Besucher sind, nach 1,3 Millionen für SOUL KITCHEN, ein herber Schlag für den Regisseur, dem gerade dieser Film Herzenssache war – und der dafür keinen geringeren als Karl Baumgartner als Verbündeten gewann. Die Gründe für die Enttäuschung wurden allseits erörtert, dem ist hier nichts hinzuzufügen.

Unter den Dokumentationen gab es auch dieses Jahr neben vielem, was keinesfalls für die große Leinwand taugte und besser allein im Fernsehen und Internet aufgehoben wäre, eine Reihe von Perlen, namhaften wie übersehenen – auch wenn man wirklich innovative, die Gattungsregeln neu formulierende Werke wie STORIES WE TELL, DIRTY WARS und 20.000 DAYS ON EARTH wohl anderswo suchen muss. Ein Highlight war auf jeden Fall DAS SALZ DER ERDE von Wim Wenders, kein deutscher Film nach den Begriffen der Filmwirtschaft, aber der Film eines Deutschen, der sein Handwerk versteht und jetzt schon unglaubliche 150.000 Zuschauer begeisterte. Eine freudige Überraschung: TITOS BRILLE (18.000 Besucher). Und ein unerwartet bildmagisches Erlebnis: IM KRIEG – DER 1. WELTKRIEG IN 3 D, eine einzigartige Zeitreise anhand historischer Stereofotografien (2.000 Besucher).
Kommen wir zum zweiterfolgreichsten durch und durch deutschen Film der sogenannten Arthouse-Charts, also der in Programmkinos – nach stillschweigender Streichung peinlicher Mainstream-Titel – meist-gesehenen kunstverdächtigen Filme: Es ist mit sagenhaften 241.000 Zuschauern DIE GELIEBTEN SCHWESTERN von Dominik Graf, der schönste deutsche Film der Berlinale, eine Dreiecksgeschichte um den jungen Schiller mit vor Witz sprühenden Wortgefechten, einem geradezu erotischen Verhältnis zur Sprach- und Dialogkunst, die so lässig-elegant ein Novum auf deutschen Leinwänden ist. Chapeau!

Und welcher deutsche Film hätte 2014 selbst VATERFREUDEN noch überboten, wäre er nicht erst zu Weihnachten gestartet? Natürlich HONIG IM KOPF von Til Schweiger, der sich mit derzeit 4,1 Mio ergriffen-beglückten Besuchern jeden Alters souverän an die Spitze setzt. Ein Film über Alzheimer! Mit Didi Hallervorden! Den außer den Schnöseln alle sehen wollen! Wenn das keine Überraschung ist…

Ludwig Ammann
Islamwissenschaftler / Publizist