- sponsored by
EIN LEIDENSCHAFTLICHER WEGGESTALTER ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE
Die öffentliche Vorführung des Dokumentarfilms „Die Sprengung des russischen Monuments” am 14. November 1914 gilt als die Geburtsstunde des türkischen Kinos. Doch ist dieses Datum nicht offiziell, denn die Kopie des 150 Meter langen Streifens, den der Reserveoffizier der Osmanischen Armee Fuat Uzkınay drehte, ist bis heute verschollen. Seitdem kamen in der Türkei endlos viele Filme auf die Leinwand, die man grob in zwei Hauptströmungen einteilen kann: Das klassische türkische Kino, bekannt unter dem Begriff „Yeşilçam”, und die moderne Filmkunst, die unter den gegenwärtigen Bedingungen ihren eigenen Weg geht.
An der Schnittstelle zwischen diesen beiden Strömungen steht der große Meister Yavuz Turgul, der zugleich einer der bedeutendsten Zeitzeugen des türkischen Kinos ist. Mit seinen Drehbüchern gestaltete er das klassische Kino und mit seinen Regiearbeiten die moderne Filmkunst in der Türkei maßgeblich mit. 1975 lernte Turgul, damals noch Journalist bei der Zeitschrift Ses, den Altmeister Ertem Eğilmez kennen, mit dem er nächtelang über Drehbücher diskutierte. Diese Begegnung öffnete Turgul das Tor in einen Sektor, in dem er immer noch tätig ist. Für Ertem Eğilmez' Produktionsfirma Arzu Film, die damals eine Art Schule für viele Filmemacher war, schrieb Turgul die Drehbücher von unvergesslichen Komödien. Filme wie Tosun Paşa (Tosun Pascha), Erkek Güzeli Sefil Bilo (Bilo das armselige Mannsbild), Banker Bilo (Bilo der Bankier), Davaro, Hababam Sınıfı Güle Güle (Abschied von der Chaotenklasse) und Züğürt Ağa gehören zu den Meilensteinen der populären Kultur, die sich Dank Turguls raffinierter Schreibkunst in das kollektive Gedächtnis von Generationen einbrannten. 1980 wechselte Turgul in die Werbebranche und stand fortan auch hinter der Kamera und mit seinem Debütfilm Fahriye Abla 1984 zum ersten Mal als Regisseur auch vor dem Publikum. Es folgten Muhsin Bey, Aşk Filmlerinin Unutulmaz Yönetmeni (Der unvergessliche Regisseur von Liebesfilmen), Gölge Oyunu (Schattenspiel), Eşkıya (Der Bandit), Gönül Yarası (Herzwunde) und Av Mevsimi (Jagdsaison), die er auch selber schrieb. Einen besonderen Stellenwert unter diesen Filmen hat Eşkıya (Der Bandit), der in 57 Wochen über 2,5 Millionen ZuschauerInnen begeisterte. Ein Novum im türkischen Kino, das Yavuz Turgul heute so kommentiert: „Es gab zu der Zeit Kassenschlager wie İstanbul Kanatlarımın Altında (Istanbul unter meinen Flügeln) und Amerikalı (Der Amerikaner), doch meine Filme sahen höchstens 100.000 Zuschauer. Ich wurde oft gefragt, ob Eşkıya die 150.000-Marke knacken könnte. Doch ich glaubte nicht daran. Die Überraschung ist umso schöner, wenn die Erwartungen geringer sind. Heutzutage wird fast nichts dem Zufall überlassen; bereits vor dem Kinostart werden Prognosen und später anhand von Ticketumsätzen Analysen erstellt. Eşkıya war ein Spätzünder. Der Hauptdarsteller Şener Şen war über das Startwochenende mit 30.000 Zuschauern traurig und meinte: „Das darf einfach nicht wahr sein!“ Weltweit ziehen die Filme die meisten Zuschauer in den ersten Wochen nach dem Kinostart. Danach bleibt die Zahl je nach Interesse einigermaßen konstant oder sie sinkt. Bei uns passierte genau das Gegenteil und alle wunderten sich. Doch das hatte auch seinen Preis, denn nach Eşkıya konnte ich acht Jahre lang keinen Film drehen.”
Yavuz Turguls Filme beschreiben den Geist von Zeitepochen, Transformationen und Verfall von Wertvorstellungen. Sein Gesamtwerk gleicht einer langen Reise, bei der er das Erbe der Klassiker von Ertem Eğilmez übernahm und mit seinen eigenen Filmen dies nicht nur krönte, sondern auch den Weg in die Zukunft ebnete. Turguls Augenmerk galt immer Geschichten von Figuren, die sich der nagenden Zeit ergeben bzw. von Anfang dazu verdammt sind darin unterzugehen. Seine Helden haben kaum eine Chance sich dem Niedergang zu entziehen, weswegen sie zum Scheitern verurteilt sind. Wie ich schon in vielen meiner Kritiken betonte, lässt sich Turgul von Helden inspirieren wie zum Beispiel von Sam Peckinpahs Cowboys, die vom Aussterben bedroht sind oder dem desillusionierten Revolverheld William Munny in Clint Eastwoods Erbarmungslos. Doch auf einer Veranstaltung anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des türkischen Kinos 2014 sagte Turgul auch: „Es gibt Leute, die mein Kino als das der gescheiterten Helden sehen. Dabei erzähle ich mehr von ihrem Kampf sich dem neuen Leben anzupassen und sich in der Gegenwart zu behaupten.” Zugegeben; Filmkritiker neigen stark dazu, zuerst ihr eigenes Weltbild zu beschreiben, um anschließend die Regisseure und ihre Filme so zu kommentieren, dass diese in der subjektiven Welt des Kritikers einen Platz zu haben scheinen. Auf jeden Fall führte Yavuz Turguls oben zitierte Aussage bei mir zu der Einsicht, dass ich den Kern seines Werkes womöglich nicht in Gänze erfasst habe, wenigstens aber in der Lage war, mich diesem zu nähern. Damit kann ich mich ohne weiteres trösten!
Wenn man über Yavuz Turguls Kino schreibt, dann kommt man glaube ich nicht umhin, auch seinen Lieblingsschauspieler zu erwähnen. Şener Şen, den wir aus früheren Komödien des Drehbuchautors Turgul sehr gut kennen, schlüpfte in den späteren Filmen des Regisseurs buchstäblich in eine neue Identität. „Der unvergessliche Schauspieler von Komödien“ verwandelte sich zu einem melancholischen Helden, zum Leidtragenden von „Herzwunden“ und einem „Banditen“, der sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis in einer völlig fremden Welt wieder findet. Şener Şen spielte in sechs von sieben Filmen von Yavuz Turgul und die Zusammenarbeit des Duos war enorm erfolgreich.
Yavuz Turgul hat ein Problem mit der Moderne und das ist verständlich. Denn das Land, in dem er lebt, hat ein ähnliches Problem. Hier gingen unzählige Zivilisationen, Königreiche und Imperien auf und gingen nieder. Auf deren Trümmern entstand zuletzt ein Nationalstaat, der seit seiner Gründung seinen eigenen Weg zwischen Osten und Westen zu finden versucht und sich auf dieser Suche mehr als oft verirrt hat. Es ist genau diese Identitätssuche, die sich in Turguls Filmschaffen ausdrückt - weniger durch konkret greifbare Geschichten und Bilder als vielmehr durch ein subtiles sich Herantasten. Die Helden Turguls ziehen den schmerzhaften Prozess der Wahrheitsfindung einem künstlich vorgesetzten, bequemen Anderssein vor.
Yavuz Turgul ist vor allem ein begnadeter Erzähler, der seine Geschichten gern mit anderen teilt und dabei keinen Hehl aus seiner Leidenschaft für seine Helden macht. Diese Helden wollen das Herz des Publikums gewinnen. Aus dem Bauch heraus gelingt es Turgul die Tradition und die Ästhetik des Yeşilçam in die Moderne zu übersetzen. Anders ausgedrückt: Er teilt das reiche Erbe der Vergangenheit mit künftigen Generationen. Ohne sein Werk wäre das türkische Kino nicht in der Lage gewesen Figuren zu erschaffen, die ihre Melancholie selbstbewusst genießen, ihr Dilemma vor aller Augen mit Wucht ausbreiten und ihren Schmerz angesichts unaufhaltbarer Veränderungen grundehrlich beklagen.
Uns bleibt die Hoffnung, dass Turgul seine Geschichten, von denen er noch zahlreich in der Schublade hat, auch in Zukunft mit allen teilt. Wir dürfen zuversichtlich sein. Denn angelehnt an Klischeeaussagen von Fußballern sagte Turgul, selbst ein Fußballfan, nämlich einmal: „Filme machen ist wie die Spielsaison ein langer Marathon. Wir müssen uns einfach nur auf das nächste Spiel konzentrieren...”
Uğur Vardan
Programm mit Yavuz Turgul auf dem Festival