EHRENPREIS: ŞENER ŞEN

ICH NEHME DIE SCHAUSPIELEREI ERNST

Als jemand, der die Kinovergangenheit gut kennt, wie würden Sie das Gestern und Heute des türkischen Kinos bewerten?

Nun, offen gesagt ist das Kino eine der größten Herausforderungen in meinem Leben. Ich bin seit Jahren ein Insider, denke aber, dass es keine Definition dafür gibt, was einen guten Film ausmacht. Noch gibt es keine Faustformel , wie ein Film, der qualitativ gut ist und das Publikum erreichen kann, aussehen muss. In anderen Bereichen der Kunst, sei es Literatur, Musik oder Malerei ist es einfacher Erklärungen zu finden, aber im Kino, das ist eine komplizierte Sache...

Was sind die Vorteile unserer Zeit?

Ich denke, dass heute jemand der wirklich Talent hat größere Chancen hat als früher. Es ist unmöglich, dass jemand der über ein sehr gutes Wissen, Anstand und die Möglichkeiten verfügt, nicht entdeckt wird. Wenn heutzutage ein Filmemacher einen 10-münitigen Kurzfilm dreht und im Internet veröffentlicht, ist es undenkbar, dass dieser Film nicht entdeckt wird, wenn er denn wirklich gut ist. Ihr Talent ist quasi ihre Visitenkarte und öffnet alle Türen. Früher war es zwar schwieriger entdeckt zu werden, aber dafür sind heute die Produktionskosten sehr hoch. Der Wettbewerb ist stärker, es gibt viele Konkurrenten. Aber das ist kein türkisches Problem, sondern ein weltweites. Die eigentliche Problematik ist allerdings das Drehbuch, das von einigen Regisseuren auf die leichte Schulter genommen wird. Sie denken, dass sie „Genies“ sind und das Problem auf dem Set lösen können. Natürlich gab es in der Geschichte des Kinos solche Leute, aber das waren besondere Menschen. Wie dem auch sei, im Kino kommt zuerst das Drehbuch und dann der Regisseur. Es ist vorteilhaft, wenn der Regisseur das Drehbuch schreibt. Schließlich kann derjenige, der eine Welt erschafft, sie auch besser auf die Leinwand bringen. Der Schauspieler kommt erst an dritter Stelle. Schauspieler sind einfach zu finden, schließlich gibt es viele. Außerdem ist der Film, anders als das Theater, nicht die Arena der Schauspielerei. Ein guter Regisseur kann einen schlechten Schauspieler sehr gut in Szene setzen. Was dann noch bleibt, ist die Finanzierung... Von der Technik her sind wir heutzutage auf dem höchsten Stand, aber letztendlich ist immer noch das Drehbuch der Dreh- und Angelpunkt eines Filmes.

Sie haben viele unvergessene Charaktere gespielt. Was für ein Gefühl haben Sie dabei?

Ich nehme die Schauspielerei sehr ernst. Mein Ziel ist es, in guten Filmen spielen zu können, die noch nicht entdeckten Seiten meiner Schauspielerei herauszufinden. Das System nötigt uns zwar andere Dinge zu tun, aber ich lehne Rollen ab, die mich nicht begeistern. Unser Kino wurde in der Vergangenheit herablassend behandelt. Doch konnten Sie auch damals unvergessene Charaktere geschaffen. Ich habe eine gute Beobachtungsgabe, was ich nicht sofort erkannt habe. Manche Menschen hören oder sehen sehr gut, ich kann gut beobachten. Ich wurde in Adana geboren, wir zogen aber 1950 nach Istanbul. Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie und wuchs in Zeytinburnu in einem Stadtteil mit vielen Gecekondus auf. Das war ein kosmopolitischer Stadtteil, wo sich Menschen aus allen Klassen trafen. Vielleicht habe ich dort einiges in mir aufgenommen, was dann später zutage kam.

Welche Rolle mögen Sie am meisten?

Für einen Schauspieler sind Rollen wie ein eigenes Kind, für mich jedenfalls. In verschiedenen Filmen wie Namuslu, Eşkıya, Gönül Yarası oder Av Mevsimi habe ich meine Rollen ausgesucht. Yavuz Turgul z. B. schreibt ein Drehbuch und definiert meine Rolle, aber er fragt mich immer vorher, ob ich das auch spielen will. Kurzum, da ich meine Rollen selber wähle, sind mir alle gleich lieb. Die Rollen sind wirklich meine Kinder. Manchmal nimmt man eine Rolle wegen des Geldes an. Bei mir ist das nicht so. Normalerweise sprechen wir am Anfang noch nicht mal über Geld. Die meisten fragen erst einmal, wie hoch ihre Gage sein wird und wie lange gedreht wird. Das alles ist für mich nicht ausschlaggebend.

Was für eine Zukunftsvorstellung haben Sie als Künstler?

Es gibt auf dieser Welt keinen Rückwärtsgang. Kurz gefasst: „Ich möchte hoffen, weil ich denke, dass wir Hoffnung haben“.

Ausgehend von den Charakteren will ich doch fragen: Wer ist der wahre Şener Şen?

Da ich so viele Charaktere gespielt habe, kann ich nicht sagen, welcher Rolle ich am nächsten bin. Bin ich der Halbstarke in Çiçek Abbas, der Baran in Eşkiya oder Badi Ekrem, welcher von denen bin ich? Ich weiß das natürlich nicht, denke aber, dass ich von allen ein Teil in mir trage. Wenn ich mich gut fühle, dann bin ich offen. Wenn nicht, dann zeige ich eine introvertierte, geschlossene Persönlichkeit. Manche sagen über mich, „er ist einzigartig“, andere wiederum „er ist sehr distanziert“. Nun, das muss ich sagen: ich kann natürlich nicht mit 77 Millionen ein Herz und eine Seele sein...

Interview: Uğur Vardan, Filmkritiker, Istanbul
Übersetzung: Murat Çakır

Programm mit Şener Şen auf dem Festival